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27. Januar 2021
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Journalismus als Leuchtturm für Europa

Journalismus als Leuchtturm für Europa

Wäre es nicht großartig, jede europäische Qualitätszeitung in meiner Muttersprache lesen zu können? Wie ein digitaler Interrail-Pass für den gesamten Kontinent? Mit dieser idealistischen Idee startete meine Reise im Media Lab R&D Fellowship. Am Ende steht fest: Sprachtechnologie könnte ein Schlüssel dazu sein, und es gibt durchaus Bedarf für ein übergreifendes journalistisches Angebot.

Vernetzte Welt – einfache Antworten?

Ausgangspunkt meiner Reise im Media Lab war die Beobachtung, dass in einer scheinbar immer komplizierter werdenden Welt die Menschen zunehmend nach einfachen Antworten suchen. Also führte ich eine umfangreiche qualitative Befragung durch. Die Gesprächspartner:innen waren überwiegend gut gebildet, weit gereist, beruflich erfolgreich, werteorientiert und aufgeklärt. Ich wollte wissen, welchen Quellen sie vertrauen und welche Wege sie nutzen. Gerade bei vielbeschäftigten Entscheidern, Fach- und Führungskräften war ich neugierig, wie sie es schaffen, sich angesichts knapper Zeitbudgets umfassend, ausgewogen und hintergründig zu informieren (oder sich zumindest derart informiert zu fühlen). Und natürlich interessierte mich besonders, welche Rolle Technologie hier spielt, seien es Smartphones, soziale Netzwerke, Podcasts oder Apps für Leselisten und Selbstorganisation.

Freundschaften aus Erasmus-Studium und Auslandsprojekten

Es ergab sich ein widersprüchliches Bild. Auf der einen Seite ist es für den Expat in New York während der Corona-Pandemie fast lebensrettend, mit Ehefrau und Freundeskreis in der Heimat Kontakt halten zu können. Regelmäßige Chats und FaceTime-Telefonate waren für mehrere Befragte gut geeignet, um Kontakte aufrecht zu erhalten, die während dem Au-Pair-Aufenthalt, im Studium oder in Auslandsprojekten geknüpft wurden.

Fast alle Gespräche zeigten: Freundschaften in andere europäische Länder sind längst alltäglich geworden und, ganz klar, ohne Smartphone und Messenger Dienste wären diese möglicherweise längst eingeschlafen.

Shitstorms, Hate Speech, Filterblasen

Dem gegenüber stellen meine Gesprächspartner:innen den gängigen sozialen Plattformen, allen voran Facebook, ein eher schlechtes Zeugnis aus: „Da schreit man sich doch nur noch an.“ Mit anonymen Fremden im Internet debattieren? Ich habe nur einen Gesprächspartner getroffen, dem das Freude machte, und selbst der hielt sich am Wochenende lieber in den Online-Kommentarspalten seiner Zeitung auf, wo er eine gepflegtere Debattenkultur erwartet. Facebook hingegen hatte er längst den Rücken gekehrt.

So überrascht nicht, dass soziale Netzwerke in meiner Zielgruppe auch bei der Versorgung mit Nachrichten, Analysen, Reportagen und Meinungen keine besondere Rolle spielten. Das hängt sicher auch damit zusammen, dass meine Gesprächspartner:innen, allesamt eher belesen, das Phänomen der Echokammern sehr ernst nehmen: Einige äußerten die tief empfundene Sorge, dass digitale Plattformen auf gesamt-gesellschaftlicher Ebene eher zersetzend wirken, anstatt zu verbinden. „Man erkennt die eigene Filterblase ja oft nicht – aber jeder meint immer die Filterblase der anderen zu kennen.“ So brachte es ein Teilnehmer meiner Studie vielleicht am besten auf den Punkt.

Die Rolle einer Zeitung

Fast rührend beschrieben einige meiner Interviewpartner:innen das Verhältnis zu ‚ihrer‘ Zeitung. Hier spielt Nostalgie eine Rolle – die Erinnerung an den Opa, der am Frühstückstisch mit den Blättern raschelte – aber nicht nur: Eine Zeitung wird eben auch als Leuchtturm einer aufgeklärten Gesellschaft gesehen. Sie transportiert eine Haltung. Wer sie auf dem Weg zur Arbeit unterm Arm trägt (oder in der U-Bahn auf dem Tablet liest), zeigt damit auch die Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft, verbunden durch Werte.

Allerdings sprach ich auch mit mehreren Protagonisten, die diesem idealistische Bild ein paar Risse verpassten. Gleich mehrere von ihnen gaben an, dass sie auf der Suche nach Themen- und Meinungsvielfalt eigentlich gerne mehrere Blätter „querlesen“ möchten. Dies sei jedoch nicht praktikabel: Mehrere Abonnements wären unverhältnismäßig teuer, und der Online-Kauf einzelner Beiträge verschiedener Webseiten mit unterschiedlichen Bezahlsystemen sei ihnen viel zu umständlich. Ein Gesprächspartner meinte zudem, dass er in Deutschland keine Zeitung mehr fände, die mit der gebotenen Distanz berichtet, und zwar „seit dem Flüchtlingssommer 2015“.

Außenansicht mit Abstand

Einer meiner Interviewpartner greift in dieser Lage ganz bewusst auf die Neue Zürcher Zeitung zurück, deren Marketing gezielt den „anderen Blick auf Deutschland“ verspricht. Eine weitere Gesprächspartnerin unterstützt „ThePioneer“ und verschafft sich im morgendlichen Newsletter von Gabor Steingart den täglichen Nachrichten-Lageüberblick, dessen „frischen Blick und klare Sprache“ sie schätzt. Ein Gesprächspartner mit niederländischen Wurzeln nutzt jeden Familienbesuch in der Heimat (und seine Sprachkenntnisse), um sich in den dortigen Medien eine zusätzliche Perspektive zum aktuellen Geschehen in Deutschland zu verschaffen.

Auch wenn die Lösungen, die meine Protagonisten für sich gefunden haben, sich stark unterscheiden, zeigt sich ein Muster. Eine fundierte Außenansicht mit Abstand: hier herrscht Bedarf.

Die Macht der Übersetzung

Im weiteren Verlauf des R&D Fellowships führte ich deshalb weitere Gespräche mit dem gezielten Angebot, eine entsprechende Plattform zu diesem Bedarf zu schaffen. Zur Illustration verwendete ich Online-Artikel von Zeitungen, die ich automatisiert übersetzt hatte. Die Befragten waren positiv überrascht von der Qualität der Texte – und manche von ihnen geradezu elektrisiert von der Aussicht, in jeder europäischen Zeitung stöbern oder gezielt nach neuen Blickwinkeln suchen zu können. Zwei von ihnen gaben sogar an, für ein solches Angebot vom Printprodukt auf eine digitalisierte Zeitung zu wechseln – eine interessante Perspektive für Medienhäuser.

Selbst diejenigen, die entsprechende Tools bereits genutzt hatten (z. B. bei beruflichen Dokumenten oder e-Mails) wären nicht auf die Idee gekommen, diese Technik für Zeitungstexte einzusetzen. Die technische Innovation hat an dieser Stelle einen Sprung gemacht. Damit werden gänzlich neuartige Lösungen möglich, für die sich der Bedarf allerdings erst langsam herauskristallisiert.

Personalisierung über Inhalte, nicht Meinungen

Um meine Feldforschung abzurunden, involvierte ich deshalb auch eine Computerlinguistin in mein Projekt. Wir entwickelten einen Prototypen, um Schriftsprache algorithmisch zu analysieren und Texte aus unterschiedlichsten Quellen damit zu clustern. Damit lassen sich beispielsweise Empfehlungen für Artikel aussprechen, die ein bestimmtes Thema berühren, und zwar unabhängig von der Sprache, in der sie ursprünglich verfasst sind – und ungeachtet der Position im Meinungsspektrum, die die Autorin oder ihre Zeitung üblicherweise vertreten.

Unseren Nutzer:innen dürften sich damit unerwartete Perspektiven aus anderen europäischen Blickwinkeln bieten, und zwar genau zu den Themen, die sie persönlich interessieren. Nach allem, was ich im Fellowship erfahren habe, trifft das einen Nerv.

Auftritt kompreno

Deshalb firmieren wir inzwischen als kompreno. Das Startup habe ich im Zuge des R&D Fellowships gegründet. Hier wollen wir hochwertigem Journalismus die kontinentale Bühne bieten, die ihm gebührt.

Unser anfänglicher Idealismus für die europäische Idee ist ungebrochen, aber für das Jahr 2021 hat sich unser Team ambitionierte Ziele gesetzt. Wir entwickeln eine Website und mobile Apps, die die ganze Vielfalt des europäischen Journalismus ausspielen. Unseren Nutzer:innen – die viel beschäftigt sind, aber immer auch neugierig – bieten wir ein kompromissloses Lesevergnügen. Und wir tüfteln an einem Geschäftsmodell, das den führenden europäischen Zeitungen nicht nur einen Weg in neue Märkte zeigt, sondern sie auch am Wachstum einer kontinentalen Plattform lukrativ beteiligt.

Für die ersten Schritte auf diesem Weg war das Media Lab der optimale Nährboden. Als ‚Quereinsteiger‘ profitiere ich immens vom Netzwerk mit Branchenexperten, im Fellowship und weit darüber hinaus. Sicher sind zwei Dinge: Es hat Spaß gemacht, und es bleibt spannend.

Und jetzt du!

Du hast auch eine Idee für eine innovative Lösungen in der Medienbranche? Dann bewirb dich jetzt für das R&D Fellowship bei uns.


Jochen Adler

Jochen ist Gründer von kompreno. Von Oktober bis Dezember 2020 war er als R&D Fellow im Media Lab Bayern. Mit einem Hintergrund als Softwareentwickler, Unternehmensberater und Innovationsmanager hat er Stationen u.a. bei der Deutschen Bank, OpenText, netmedia und Cambridge Technology Partners durchlaufen. Seit 25 Jahren befasst er sich mit technischen Neuerungen und damit, wie sie Kunden- und Konsumentenerwartungen und unser alltägliches Leben verändern.

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