Abschlussarbeiten im Media Lab | 17.12.2024
Erwerbslose und das Potenzial konstruktiver Berichterstattung
Faulenzertum, Sozialschmarotzertum, Drückebergerei – die Berichterstattung über Erwerbslose strotzt oft nur so vor negativen Zuschreibungen. Besonders in Boulevardmedien. Auf welche Narrative greift dabei bild.de in ihrer Berichterstattung zurück – und was passiert, wenn man die Perspektive wechselt und stattdessen konstruktiv berichtet?
Narrativ: Schuldzuweisung statt Ursachenforschung
Mit der Einführung des Bürgergeldes Anfang 2023 hat sich die mediale Berichterstattung über Erwerbslose erneut intensiviert. Besonders prägend ist dabei die Rolle von bild.de, Deutschlands führendem Online-Boulevardmedium. Mit durchschnittlich etwa 200 Millionen monatlichen Visits hat das Medium eine große Reichweite. Eine Narrativanalyse von 66 Artikeln aus dem ersten Halbjahr 2024 zeigt: bild.de transportiert über diese Reichweite weitgehend populistische Narrative.
Überwiegend „faul“, „teuer“, „ungerecht“ und gerne auch mal „kriminell“ sei er, der Erwerbslose. Auf acht negativ konnotierte Narrative kommen zwei positiv konnotierte, knapp 68 Prozent der analysierten Artikel weisen eine negative Grundtonalität auf. Anders gesagt: bild.de lässt kaum ein gutes Haar an Erwerbslosen.
Diese Darstellung ist nicht neu. Bereits während der Hartz-IV-Reformen nutzte bild.de ähnliche Narrative, um Einzelpersonen, Stichwort Arno Dübel, als „freche Arbeitslose“ zu stigmatisieren. Dass diese Darstellungen jedoch problematisch sind, liegt auf der Hand. Sie reduzieren strukturelle und komplexe Phänomene auf individuelle Defizite und verschieben den Fokus hin zu einer vermeintlich moralischen Schwäche der Betroffenen. Dadurch werden gesellschaftliche Debatten polarisiert und Lösungen erschwert.
Konstruktiver Journalismus: Vom Problem zur Perspektive
Doch es gibt auch Alternativen, wie den konstruktiven Journalismus. Entgegen mancher Kritik geht es dabei nicht um unkritisches Positiv-Denken oder das Verschweigen von Problemen. Vielmehr erweitert er konventionellen Journalismus um die Frage ‚Was nun?‘: Neben der Darstellung von Missständen zeigt er auch mögliche Lösungsansätze auf. Statt sich auf Schuldzuweisungen und Polarisierung zu konzentrieren, legt er Wert auf die Förderung gesellschaftlicher Diskurse. Befürworter des konstruktiven Journalismus sehen vor allem drei Wirkungen, wie der Journalist und Kommunikationswissenschaftler Klaus Meier darstellt:
- Mikroebene: Positive Auswirkungen auf das Publikum.
- Mesoebene: Stärkung des Vertrauens in Medien.
- Makroebene: Förderung gesellschaftlicher Debatten und sozialen Engagements.
Mehr zum konstruktiven Journalismus und seinen Effekten hat Barbara Maas in diesem Blogbeitrag ausführlich zusammengefasst:
Es erscheint daher lohnenswert zu klären, welches Potenzial der konstruktive Ansatz am Thema ‚Erwerbslosigkeit‘ hat. Um dies zu testen, habe ich einen herkömmlichen Artikel von bild.de in eine konstruktive Version umgeschrieben und beide, die originale sowie die redigierte Version, in leitfadengestützten Interviews auf deren Rezeption an der Generation Z getestet. In der ursprünglichen Version nehmen Problemdarstellungen den überwiegenden Anteil des Artikels ein. Im Vordergrund steht die Kritik am Bürgergeld-System: Es dulde ‚Faulenzer‘, habe den Kreis der Leistungsberechtigen zu groß gezogen und die Erhöhung zum Jahresanfang 2024 werde nie mehr zurückgenommen. Die konstruktive Version beinhaltet hingegen Lösungsansätze wie verstärkte Bildungsprogramme und weitere Perspektiven. Außerdem ersetzen objektivere Bezeichnungen die zuvor subjektiv wertende Sprache, um eine faire Grundlage zur gesellschaftlichen Debatte zu legen.
Chancen und Grenzen des konstruktiven Journalismus
Die Ergebnisse sind durchaus vielversprechend. Konstruktiver Journalismus konnte das Interesse an Nachrichten und der Thematik steigern sowie das Vertrauen in die Medien stärken. Ebenfalls zeigten die Leser*innen der konstruktiven Version eine erhöhte Bereitschaft zu gesellschaftlicher Debatte.
Allerdings wurde auch deutlich, dass der konstruktive Journalismus kein Allheilmittel ist und Grenzen hat: Die Bereitschaft, den konstruktiv redigierten Artikel in sozialen Netzwerken zu teilen und auch ihn dort zu kommentieren, stieg nicht an und auch eine erhöhte Handlungsbereitschaft konnte ich nicht nachweisen. Deutlich hervor trat aber noch ein anderes Ergebnis: Eine stigmatisierende Berichterstattung wie die auf bild.de lehnten nahezu alle Befragten ab.
Für die journalistische Praxis lässt sich festhalten, dass eine gezielte redaktionelle Neuausrichtung hin zu konstruktiver Berichterstattung durchaus das Potenzial birgt, positive Effekte bei den Rezipient*innen zu erzielen. Gleichermaßen ist es Aufgabe der Redaktionen vorurteilsbehaftete Narrative zu vermeiden - denn nur so kann eine faire Basis zu gesellschaftlichen Diskurs gelegt werden.
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